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30.01.2021

Bis ins letzte Genom - ein Artikel über die Präzisionsonkologie von Annika Hennebach

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Individualisierte Behandlungsmethoden der Präzisionsonkologie versprechen größere Heilungserfolge. Tumoragnostische Wirkstoffe retten Leben oder verlängern es deutlich

Ein Forscher träufelt aus einer kleinen Pipette eine Flüssigkeit in ein Reagenzglas. Mehrere Reagenzgläser und ein Erlenmeyerkolben vorn rechts sind mit einer hellblauen, klaren Flüssigkeit gefüllt. Kopf und Schultern des Forschers sind nur unscharf im Hintergrund zu erkennen.
Forschen im Labor

Die ganze Welt schaut zurzeit auf Corona – auf die Zahlen, aber auch auf die wissenschaftlichen Entwicklungen im Zusammenhang mit Covid-19. Der erste Impfstoff, den die Firma Biontech aus Mainz zusammen mit Pfizer entwickelt hat, wurde in Rekordzeit von der europäischen Arzneimittel-Agentur im Dezember 2020 zugelassen, weitere folgten. Aber nicht nur in Bezug auf die Pandemie entwickelt sich die Forschung weiter. Insbesondere in der Onkologie sind neue Therapien entstanden – und geben Grund zur Hoffnung.

Laut Deutscher Krebshilfe erkranken jährlich rund 510.000 Menschen neu an Krebs. Die Präzisionsonkologie, die an der Genetik ansetzt, geht anders als die herkömmliche Onkologie davon aus, dass jeder Tumor individuell ist – unabhängig von seiner Lokalisation. Lungenkrebs ist eben nicht gleich Lungenkrebs, Mammakarzinom nicht gleich Mammakarzinom. Und bei seltenen Tumorerkrankun- gen sieht es noch mal diversifizierter aus. „Das Wesen der Präzisionsonkologie besteht darin, die individuellen Merkmale einer Krebserkrankung möglichst genau zu erfassen, und auf der Basis dieses Wissens eine möglichst passgenaue Behandlung auszuwählen“, erklärt Stefan Fröhling, Leiter des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Denn: „Jede Tumorerkrankung ist gewissermaßen ein Individuum.“

Mit dem Pathologen Albrecht Stenzinger, Leiter des Molekularpathologischen Zentrums (MPZ) in Heidelberg und anderen Experten wie Radiologen, Bioinformatikern und weiterer Fachdisziplinen, kommt Fröhling in molekularen Tumorboards zusammen, um den Patienten auch in seiner Gesamtperson zu betrachten. Und einen Beschluss für die weitere Therapie zu fassen. Dabei ist die genetische Analyse die Grundlage, erklärt Stenzinger. „Zum genauen Verständnis des Tumors müssen die vulnerablen Stellen im Tumor identifiziert werden.“

Dies geschieht vorzugsweise mit Hilfe des Next Generation Sequencing (NGS), wobei Genfusionen extrem schnell und effizient nachgewiesen werden können. NGS ist ein Hochdurchsatzverfahren zur Nukleinsäure-Sequenzierung, das sowohl seltene Mutationen als auch Mutationen vieler oder sogar aller Gene gleichzeitig aufzeigt. Wie Ulrich Keilholz, Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center (CCCC) in Berlin erklärt, werden Krebserkrankungen durch Chromosomenanomalien verursacht. „Dadurch ergeben sich genetische Veränderungen in den Zellen, die dazu führen, dass die Wachstumsregulation defekt ist und sich diese Krebszellen ungehindert vermehren können.“ So finde man bei einem Krebspatienten zwischen fünf und mehr als 1.000 Mutationen.

Die Präzisionsonkologie, deren Ursprünge bis in die Sechzigerjahre zurückreichen, und deren Entwicklung dann nach 2000 mit dem Humanen Genomprojekt aus den USA an Geschwindigkeit aufnahm, hat tumoragnostische Wirkstoffe hervorgebracht, die Leben retten oder deutlich verlängern. „Die Hämatologie hat Pionierarbeit geleistet. Ein Meilenstein war die Aufklärung des molekularen Mechanismus der CML (chronisch myeloische Leukämie), die Jahrzehnte gedauert hat, letztendlich aber zur Entwicklung eines zielgerichteten Medikaments und einer dramatischen Verbesserung der Prognose der betroffenen Patienten geführt hat“, so Fröhling.

Für besonders häufig vorkommende Mutationen in den Tumoren, wie es etwa beim Bronchialkarzinom mit der EGFR-Mutation (etwa 15 Prozent der Patienten), beim Mammakarzinom mit PIK3CA (40 Prozent) oder BRCA 1/2 (fünf Prozent) der Fall ist, gibt es bereits wirksame Medikamente. Nach diesen und auch anderen bekannten Genveränderungen wird heutzutage etwa bei Lungen- oder Brustkrebs in Tumor- zentren standardmäßig gesucht. Schwieriger sieht es bei den sehr seltenen Krebserkrankungen aus. „Häufige Tumorer- krankungen haben mehr Möglichkeiten der Behandlung als seltene Krebsarten, deren Entstehungsmechanismen oft un- zureichend erforscht sind“, erklärt Fröhling vom NCT. „Bei seltenen Tumorerkrankungen ist es so, dass einen die Erfahrungsmedizin oft im Stich lässt und da hilft die Präzisionsonkologie unheimlich viel. Da ist es ein Drittel bis die Hälfte der Patienten, bei denen man molekulare Veränderungen findet oder immunologische Veränderungen, die ganz klar zu einer Behandlung führen, die erfolgreich ist“, sagt der Berliner Professor Keilholz.

Neue Medikamente werden heute vor allem in klinischen Studien getestet, wobei die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) sehr schnell ist, neue Krebsmedikamente auf den Markt zu bringen. „Die europäische Zulassungsbehörde (EMA) ist eher zurückhaltender“, sagt Stenzinger vom MPZ. „In den USA gibt es über 80 zugelassene zielgerichtete Wirkstoffe in der Krebstherapie“, so Fröhling. Aber auch in Deutschland kommen immer mehr wirksame Mittel gegen bestimmte onkogene Treiber in den Vertrieb. Allein 2019 wurden zehn neue Krebsmedikamente von den Pharmaunternehmen eingeführt, sieben davon setzen bei Mutationen an.

An der Charité sowie dem NCT prägt das Stichwort des Netzwerks die Präzisionsonkologie mehr als es in der herkömmlichen Onkologie der Fall war, nicht nur bei den Tumorboards oder -konferenzen. „Die Seltenheit der genetischen Veränderungen macht auch eine Zusammenarbeit von hochspezialisierten Zentren in nationalen sowie internationalen Netzwerken unabdingbar“, sagt Fröhling. Tech- nisch ist die Identifizierung von Schwachstellen in Tumoren extrem weit fortgeschritten. Jetzt müssen neben neuen Medikamenten auch noch die bereits in den USA zugelassenen Krebsmedikamente in Europa auf den Markt kommen. Fröhling: „Die Zulassung der Covid-19-Impfstoffe hat gezeigt, wie schnell das gehen kann. Das gibt Hoffnung!“

Von Annika Hennebach

https://annikahennebach.wordpress.com/uber/

erschienen im taz Thema ‚Weltkrebstag‘
taz am Wochenende 30./31.01.2021

Kontakt

Prof. Dr. med. Ulrich Keilholz

Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center, CharitéCharité – Universitätsmedizin Berlin

Postadresse:Charitéplatz 110117 Berlin

Campus- bzw. interne Geländeadresse:Virchowweg 23 (barrierefrei)

CCM, Virchowweg 23


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